von Andy Pillip

Mobile Experience Design & Usability

Wir haben die Experten getroffen — auf der MobX in Berlin

Kalt und neblig war unser Wochenende in Berlin — auf dem wir aber (im Warmen) viele motivierende Gespräche führen durften, und uns von Experten aus dem User Experience & Usability Umfeld Anregungen holen konnten.

Einen geselligen Abend mit Kicker im Berliner Nachtleben haben wir uns natürlich auch nicht entgehen lassen: Wir haben uns ganz gut geschlagen.

Der Heimathafen ist ein herrliches altes Theater

Zur Sache: Insgesamt war nicht alles neu für uns, wir wurden viel in unseren Einschätzungen bestätigt. Absolut faszinierend war für mich der Vortrag der Cyborg-Anthropologin Ember Case am Samstag Abend. Hier also, was ich persönlich mitgenommen habe:

Bevormundete Benutzer und der Mythos vom mobilen Benutzer

Dass der Aufruf einer Webseite, oder das Benutzen einer App auf einem mobilen (=portablen) Endgerät nicht immer gleich bedeutet, dass der Nutzer in Eile und unterwegs ist, hat mir Cennydd Bowles in seinem Vortrag Context, Bloody Context bestätigt.

Form follows function stimmt insofern nicht mehr, als dass der Nutzer zur Erfüllung einer aktuellen Aufgabe in der Regel das nächstbeste Gerät nimmt, und nicht das, das für die Aufgabe am Besten passt.

Mit Sensoren dem Nutzer Arbeit abnehmen

Greg Nudelmann hat uns daran erinnert, dass nicht jeder Punkt am Touchscreen gleich gut zu erreichen ist — und sich gefragt, warum auf dem iPhone oft 24 % der Bildschirmfläche für Navigation verschenkt werden, wo doch der eigentliche Inhalt das wichtigste ist. Er schlägt vor, Versuche mit 0 % Navigationsfläche zu starten.

Viele Eingaben vom Benutzer lassen sich erleichtern oder sind gar überflüssig: Warum fragt eine App nach der Stadt? Die lässt sich aus Geokoordinaten ermitteln. Oder warum soll der Benutzer etwas abtippen, was sich genau so gut mit dem Gerät fotografieren lässt?

Mobile Apps als Chance, das Produkt- oder Servicedesign zu verbessern

Wir nutzen die Überlegungen und Nachforschungen, die wir für die Entwicklung einer App oder mobilen Webseite anstellen, natürlich auch, um die eventuell bestehende Webseite zu verbessern und zu vereinfachen.

In ‘Something mobile' About the future of the mobile design business hat uns Andreas Wegner klar gemacht, dass das eigentlich noch weiter geht und mit diesem Aufwand das gesamte Produkt oder der Service besser entworfen werden kann. Das Verlangen nach benutzerfreundlichen Apps gibt Usability-Experten also langfristig die Chance, auch das Kerngeschäft des Kunden lukrativer, weil benutzerzentrierter, zu gestalten.

Wollen wir wirklich für jede Steckdose und Glühbirne eine App installieren?

Bei Anfragen nach Apps denken wir grundsätzlich, dass der Service parallel auch ohne App angeboten werden sollte, wenn sinnvoll. Oft ist sogar nur eine mobile Web-App (Webseite) sinnvoller, weil der Service naturgemäß gar nicht regelmäßig genutzt wird.

Zahlreiche Projekte auf Kickstarter, wie die WiFi-Glühlampe oder nest, das über Internet die Heizung reguliert, zeigen, dass das Internet der Dinge auf dem Vormarsch ist (Stichwort IPv6).

Scott Jenson hat in seinem fesselnden Vortrag Beyond Mobile, Beyond Web dazu aufgerufen ein Protokoll zu entwickeln, mit dem mobile Geräte Aktionen in ihrem Umfeld entdecken, bewerten und dem Nutzer auf Anfrage anbieten können, wie zum Beispiel ein Plakat zu bewerten oder das Menü vom Restaurant gegenüber ab zu rufen.

Diese Mikrofunktionen werden nie genutzt werden, wenn jedes Ding verlangt, eine App zu installieren. Mobile Web-Apps sind also hier die Lösung für diese kurzen Einmal-Interaktionen.

Warum gibt es noch keine interaktiven Fernsehsendungen?

Diese Frage stellt Hendrik Dacquin in seiner Präsentation Second Screens - Blending TV and the web. Begleitende Apps zu Fernsehsendungen gehen oft nicht darüber hinaus, die Sendung zu bewerten und zu diskutieren. Wobei die Kritik oft nicht einmal zur Überarbeitung der Sendung genutzt wird.

Viel schöner sind da Apps, mit denen die Zuschauer tatsächlich in die Sendung eingebunden werden. Zum Beispiel können Umfragen live an die Zuschauer gestellt werden, oder die Zuschauer können an Ihrer App den weiteren Ablauf der Sendung beeinflussen. Alles kein Hexenwerk, und definitiv die bessere Story.

Ein Musikinstrument für elektronische Musik

Martin Kaltenbrunner stellt in der Tangible Music Präsentation seinen reactable vor, ein Touchtable für DJs, der die Effekte, Sampler und Sequenzer anfassbar und für die Gäste verfolgbar macht — und obendrein noch fantastisch aussieht.

Der Freitagabend ging damit mit einer Live-Performance zu ende. Fantastisch.

Wer wissen will, wie das Ding ungefähr funktioniert, kann sich die reactable-App installieren.

Warum versuchen die Großen immer alles selbst zu entwickeln?

Dass da draußen hunderte fähige Entwickler fantastische Lösungen als Ergänzung für Services Dritter schaffen können, haben mir schon einige Apps gezeigt, wie zum Beispiel Öffi für die öffentlichen Verkehrsmittel.

Warum aber die großen Anbieter, wie zum Beispiel die regionalen Verkehrsbetriebe oder die Deutsche Bahn, sich so sehr dagegen verschließen, indem sie Entwickler verklagen, die eigentlich kostenlos ihre Services verbessern und weiter verbreiten möchten, geht nicht in meinen Kopf.

Joel Sandström vom interaktionsbyrå hat uns verständlich gemacht, dass auch die Automobilindustrie so sehr hinterherhinkt, weil sie selbst versucht, alle aktuellen Lösungen ins Auto zu integrieren. In Interaction Design in the automotive industry macht er klar, dass das bei 5-jährigen Produktzyklen nicht funktionieren kann, zumal ein guter Anteil der großen Player im Internet nach 5 Jahren wieder verschwunden ist.

Vielmehr muss das Auto mehr Nutzen vom mobilen Gerät holen, statt selbst alles an zu bieten.

Alles übersetzen oder gar nichts

Chui Chui Tan war in ihrem Vortrag Same devices, different experiences, Why your users in Asia will never be like your users in Europe grundsätzlich der kulturelle Unterschied zwischen USA, Europa und Asien sehr wichtig, insbesondere der Sprachliche.

Für Nutzer ist es sehr aufwändig, die Sprache beim Lesen zu wechseln. Gibt es in einer großteils übersetzten App also noch unübersetzte Teile, ist das sogar für Benutzer schlecht, die die Sprache verstehen: Sie müssen plötzlich umschalten.

Kann der Nutzer kein Deutsch, hilft die englische App am Fahrkartenautomaten auch nichts, wenn die eigentliche Zahlungsaufforderung dann auf Deutsch gestellt wird: Wieder einen Kunden verloren (oder sogar kriminalisiert?).

Was wir benutzen, ist alt

ist meine Erkenntnis aus Everything old is new again / The design of portable technology appears to have reached a slightly embarrassing holding point.

Mit anschaulichen Beispielen aus der Vergangenheit hat Stephanie Rieger gezeigt, dass es unmöglich ist, wirklich neue Dinge zu entwickeln, ohne an bestehendem fest zu halten, was wir als selbstverständlich wahrnehmen.

In der Wohnung der Zukunft ist zwar der Rasierer gleichzeitig zum Videotelefonieren gedacht, hängt aber nach wie vor an einem Kabel.

Ist eigentlich schon mal jemandem die Telefonzelle in Zurück in die Zukunft aufgefallen?

Jap, wir sind Cyborgs

Absolut beeindruckt hat mich Amber Case, eine Cyborg Anthropologin aus Amerika. From Solid to Liquid to Air: Cyborg Anthropology and the Future of the Interface erinnert uns daran, dass die ultimative Nutzerschnittstelle diejenige ist, die uns einfach Mensch sein lässt — und nirgendwo behindert.

Aktuelle Experimente mit Robotersteuerung über Gedanken und andere Schnittstellen zum Gehirn werfen in mir die Frage auf: Können wir Benachrichtigungen unseres digitalen Begleiters vielleicht irgendwann einfach fühlen?

Warum sind wir Cyborgs?

Der Begriff Cyborg (eingedeutscht auch Kyborg) bezeichnet ein Mischwesen aus lebendigem Organismus und Maschine. — Wikipedia, 18.11.2012

Die meisten von uns haben zwar noch keine Körperteile aus Maschinenteilen — aber sehr wohl haben wir vor langem begonnen, unser Bewusstsein und damit einen großen Teil von uns selbst, in Maschinen aus zu lagern: Unser Kalender am Computer, unser Telefonbuch, den Stadtplan, Wörterbücher.

Amber hat uns damit in den Samstagabend mit angeregten Gesprächen entlassen. Ein durchaus gelungenes Wochenende in lockerer Atmosphäre mit ungezwungenem Austausch.